József Debreczenis Buchüber seine Zeit im KZ

Häufig wird man in diesen Tagen gefragt, wie es denn wohl weitergehe mit der Erinnerungskultur, mit dem Gedenken an den Holocaust, wenn eines Tages auch die letzten noch lebenden Zeitzeugen verstorben sein werden. Ein Journalist verstieg sich gar zu der These, dass dann die historische Wahrheit in Gefahr sei. Solchen Befürchtungen liegt ein Missverständnis zugrunde. Die Rekonstruktion der Realgeschichte ist nicht die Aufgabe der Zeitzeugen, dafür gibt es die historische Forschung. Die Zeitzeugen sind nicht für die Außen-, sondern für die Innenansicht des Geschehens zuständig. Und diese Innenansicht ist, das hat auch die historische Forschung mittlerweile anerkannt, in ihrer Weise nicht weniger bedeutsam.
Das großartige Buch von József Debreczeni, das jetzt auf Deutsch vorliegt, ist ein gutes Beispiel dafür. Als er in Auschwitz-Birkenau eingeliefert wurde, kam er mit einem französischen Häftling ins Gespräch, der ihm den Vernichtungsvorgang beschrieb und bemerkte: „Bisher sind drei Millionen menschliche Körper zu Rauch geworden.“ Tatsächlich waren, im April 1944, etwas weniger als eine halbe Million Menschen in Birkenau ermordet worden.
Weit überhöhte Opferzahlen waren damals nicht selten. Sie waren vielleicht ein Ausdruck des Versuchs, die Monstrosität dieses ungeheuerlichen Verbrechens mit Hilfe unvorstellbar großer Zahlen zu erfassen. Witold Pilecki zitiert in seinem Buch „Freiwillig in Auschwitz“ Häftlinge, die sogar von fünf Millionen sprechen. Und die sowjetische Kommission, die im Januar 1945 den befreiten Lagerkomplex gründlich untersucht hat, hat auf Grund falscher Berechnungen die Zahl der Ermordeten auf vier Millionen festgelegt, eine Zahl, die erst nach dem Ende des kommunistischen Regimes 1990 in Frage gestellt werden konnte.
Heute wissen wir sehr genau, dass in Auschwitz 1,1 Millionen Menschen ermordet wurden. 90 Prozent von ihnen waren Juden, was bis 1990 in Polen allerdings nicht thematisiert wurde.
Der Schriftsteller, Journalist, Übersetzer, Dichter und Dramatiker József Debreczeni, der eigentlich József Brunner hieß, wurde im Oktober 1905 in Budapest geboren. Als er 14 war, floh die Familie nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik unter Béla Kun vor dem Weißen Terror ins serbische Batschka, eine Region, die nach dem Balkanfeldzug 1941 von den mit den Deutschen verbündeten Ungarn annektiert wurde. Debreczeni musste Zwangsarbeit leisten und wurde im April 1944 nach Auschwitz deportiert.
Dort blieb er nur kurz und wurde dann in ein Außenlager des niederschlesischen KZ Groß-Rosen im Eulengebirge überstellt, das in Debreczenis Buch „Eule“ heißt. Danach kam er nach Fürstenstein und im November 1944 nach Dörnhau. In diesem Außenlager mussten die Häftlinge in einer ehemaligen Teppichfabrik hausen. Das Gebäude war unbeheizt, die Häftlinge erhielten nur ein Drittel der normalen, ohnehin schon sehr kargen Verpflegungsrationen. Es gab eine „Krankenstation“, die aber weder über Medikamente noch über medizinische Instrumente verfügte. Viele Typhuskranke waren nackt und hatten auch bei Minusgraden lediglich eine einzige Decke zur Verfügung, und auch die nicht immer. Die meisten Häftlinge starben an Kälte, Hunger und Durchfall. Gaskammern und Verbrennungsöfen wie in Birkenau gab es hier nicht, aber die Überlebenschancen der Häftlinge waren kaum besser. Deshalb nannten sie das Lager Dörnhau „Kaltes Krematorium“.
Debreczeni und die anderen Häftlinge mussten hier – meist untertage – schwere Zwangsarbeit leisten. Sie arbeiteten für das Projekt Riese, ein sich über viele Kilometer erstreckendes System von Stollen. Anstelle der vom Vormarsch der Roten Armee bedrohten Wolfsschanze in der Nähe des ostpreußischen Rastenburg (heute Kętrzyn) sollte hier, zwischen Breslau und Dresden, ein neues Führerhauptquartier entstehen, mit Arbeitsräumen für die Oberkommandos des Heeres und der Luftwaffe und den Reichsführer SS Himmler, eine gigantische, bombensichere Anlage tief unter der Erde. Zur gleichen Zeit wurde in Thüringen, nördlich von Nordhausen, von Häftlingen des KZ Mittelbau-Dora eine unterirdische Rüstungsfabrik errichtet, die Hitlers Wunderwaffen produzieren sollte.
Für August 1945 war die Fertigstellung des Projekts Riese geplant. Es war dies ein noch aberwitzigeres Unterfangen als das Buna-Werk der IG Farben in Auschwitz-Monowitz, das trotz jahrelanger Bauzeit am 27. Januar 1945, als das Lager befreit wurde, noch nicht betriebsbereit war. Aber von den 35.000 Sklavenarbeitern, die dort für die deutsche Rüstungsindustrie schuften mussten, waren 25.000 der „Vernichtung durch Arbeit“ zum Opfer gefallen.
Das KZ Groß-Rosen wurde von der rasch nach Westen vorrückenden Sowjetarmee am 13. Februar 1945 befreit. Die Armee hielt sich aber nicht damit auf, auch die über 50 Außenlager zu befreien. In Dörnhau mussten die kranken und zu Tode erschöpften Häftlinge noch bis Mai 1945 weiterarbeiten. Erst dann fuhren russische Soldaten in Kutschen vor, wie der ungarische Fotograf Lajos Erdélyi, der ebenfalls in Dörnhau inhaftiert war, berichtet. Debreczeni nennt die Befreier „Außerirdische aus dem Universum jenseits des Stacheldrahts.“
Der Bericht von József Debreczeni, die Übersetzerin bezeichnet ihn als Roman, ist eine beklemmende Lektüre. Debreczenis Beobachtungen sind von unerbittlicher Genauigkeit und verleihen dem, was er beschreibt, eine fast überscharfe Plastizität:
„Wer an der Reihe ist, verlässt in Dörnhau die Welt meist nachts. Der Nacht gehören das kämpfende Wimmern, der Abschiedsschrei, das schmerzvoll mit daheim verbindende Delirium.
Ihr Visionäre mit Stift, Kreide, Steinen oder Pinsel in den Händen, die ihr jemals versucht habt, die Grimassen des Leides und des Vergehens festzuhalten, ihr Seher von Todestänzen, Ziselierer des Grauens, Berichterstatter der Hölle, kommt hierher!
Eine Nacht in Dörnhau.
Sechshundert Menschen werden eng aneinandergepresst. Jeder Dritte wälzt sich, klagt, stöhnt, röchelt, redet irre. Jeder Dritte liegt im Sterben.“
Hier gilt, was Saul Friedländer über sein Buch „Jahre der Vernichtung“ gesagt hat: „Wie ich in meiner Arbeit zu zeigen versuchte, sind solche Einblicke in die Vergangenheit einzelner Menschen auch von allgemeiner Bedeutung für die Darstellung von Geschichte.“ Friedländers Buch war konstituierend für die Würdigung der Zeitzeugen durch die Geschichtswissenschaft.
Debreczenis Blick ist nicht nur unerbittlich genau, er ist auch ganz nach innen gerichtet, auf die Zwangsgemeinschaft der Häftlinge. Das Universum jenseits des Stacheldrahts ist nur ein Schatten am Horizont. Die SS-Männer, die das Lager betreiben, meistens nennt Debreczeni sie nur „die Grauen“, spielen naturgemäß eine wichtige Rolle. Aber seine Aufmerksamkeit gilt vor allem dem sozialen Kosmos der Häftlinge, den Beziehungen zwischen der großen Masse der ihrem Schicksal ausgelieferten einfachen Häftlinge und den Funktionshäftlingen, die ein „unendlich wucherndes Hierarchiegeflecht“ bildeten.
Die Funktionshäftlinge waren der verlängerte Arm der SS, ihnen überließ sie die Drecksarbeit. Sie mussten den Alltag im Lager organisieren und häufig auch Prügelstrafen ausführen. Das Verhalten der Häftlingsärzte und Pfleger, Blockältesten, Stubenältesten, Oberkapos, Prügelkapos, Küchenleute, Schreiber usw. usf. hatte großen Einfluss auf die Überlebenschancen der Häftlinge. Die Funktionshäftlinge standen ihrerseits unter enormem Druck. Wenn sie nicht willfährig genug waren, konnten sie ihren Posten schnell verlieren. Debreczeni beschreibt all dies mit einer Genauigkeit und Ausführlichkeit, wie es kaum je zuvor zu lesen war.
Der deutsch-ungarischen Übersetzerin Timea Tankó ist es gelungen, dieses auch literarisch großartige Werk meisterhaft ins Deutsche zu übertragen. Außerdem hat sie ein sehr informatives Glossar hinzugefügt.
Auf dem Vorsatz ist dem Buch eine Karte der Konzentrationslager und Vernichtungslager „im Deutschen Reich“ beigegeben. Sinnvoller Weise sind auch die Vernichtungslager im Generalgouvernement verzeichnet, das allerdings nicht zum Deutschen Reich gehörte. Ein Pfeil bezeichnet „Debreczenis Weg von der Deportation zur Befreiung“. Leider hat man sich aber nicht die Mühe gemacht, die Arbeitslager, in denen Debreczeni inhaftiert war und die im Buch ein zentrale Rolle spielen, auf der Karte einzuzeichnen. Vielleicht kann das noch nachgeholt werden. In jedem Fall sind diesem so bemerkenswerten Buch noch viele weitere Leser zu wünschen.
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